"Der Mensch läuft ohne Struktur Gefahr, in eine Art Winterschlaf zu verfallen"
Sonntag, 05. April 2020, 10:00 Uhr
Die Corona-Krise hat den Lebensrhythmus vieler Menschen weltweit komplett verändert. Mehr Zeit für uns und unseren eigenen Kopf. In unserem Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) ist die Sportpsychologie in diesen Tagen umso mehr gefragt. Michael Schirmer, sportpsychologischer Leiter des NLZs, beantwortet im Interview unter anderem, worauf wir im Moment achten sollten und mit welchen Tipps und Tricks unsere Nachwuchsspieler unterstützt werden.
Hallo Michael,
NLZ-Leiter Roger Stilz hat vor kurzem im Homepage-Interview gesagt, dass die Sportpsychologie in diesen Tagen an Wertigkeit gewinnt. Inwiefern macht sich das für Dich bemerkbar?
Die Wertigkeit der Sportpsychologie in unserem NLZ war schon immer sehr gut. In dieser außergewöhnlichen Situation sind wir aber natürlich nochmal besonders gefragt. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das jetzt viel zu Hause sein muss. Das kann emotional manchmal auch fordernd sein. Auf der anderen Seite gibt es Zeit zur Reflexion und vielleicht auch zur Veränderung. Daher sind wir gefragt, Unterstützung zu bieten und Tipps zu geben.
Ihr habt für die Jungs auch während der Isolation Videobeiträge mit Themen aus der Sportpsychologie erstellt. Mit welchem Schwerpunkt?
Da ging es zunächst darum, den Tagesplaner vorzustellen. Die Jungs sollen lernen ihren Tag eigenständig zu gestalten und sich überlegen wie sie ihre Zeit einteilen. Wann mache ich etwas für die Schule, wann etwas für den Fußball und wann etwas für mich? Wann stehe ich überhaupt auf und wann gehe ich ins Bett? Das hilft dabei, sich besser selbst zu organisieren. Der Mensch braucht Rhythmus im Leben und läuft ohne Strukturen Gefahr, in eine Art Winterschlaf zu verfallen. Aus so einer inaktiven Phase ist es dann umso schwerer wieder ins Handeln zu kommen. Insgesamt versuchen wir in dieser besonderen Situation relevante Inhalte rund um den Fußball und den Alltag zu bieten. Das machen wir mit kleinen Videoclips, weil das lebendiger und anschaulicher ist, als eine Mail mit Infos.
Normalerweise sind die NLZ-Spieler nahezu zu 100 Prozent mit Schule und Fußball beschäftigt. Wie ist die Umstellung vom durchgetakteten Tagesablauf auf die jetzige Situation zu verkraften?
Es macht Sinn im ersten Moment zur Ruhe zu kommen und durchzupusten. Dann ist es aber natürlich wichtig, wieder in eine Taktung reinzukommen. Auf Dauer tut das dem Menschen sonst nicht gut. Das Wichtigste ist, sich täglich selbst Ziele zu setzen.
Euer normaler Arbeitsalltag unterteilt sich in Gruppen- und Einzelsitzungen. Finden diese noch wie gewohnt statt?
Das schon, aber natürlich über den Bildschirm. Der Kontakt mit den Spielern und Trainern ist nach wie vor groß. Bei der Kommunikation mit den Mannschaften arbeiten wir dann eher rein informativ.
Macht es sich bemerkbar, dass über Telefon- oder Videotelefonate die Intimität des Gesprächs ein stückweit verloren geht?
Ja, es ist nicht das Gleiche. Der Mensch kommuniziert zu 80 Prozent nonverbal. Man bekommt nicht alles von der Kommunikation mit. Es macht einen Unterschied, ob man gemeinsam in einem Raum sitzt oder nicht. Auf der anderen Seite haben wir aber auch Glück, dass uns diese Möglichkeiten überhaupt zur Verfügung stehen. Das kann natürlich auch eine Chance sein, um die Medien zukünftig besser nutzen zu können.
Was können die Jungs aus sportpsychologischer Sicht aus der derzeitigen Situation für die Zeit nach der Corona-Krise mitnehmen?
Das ist sehr individuell. Denn jeder befindet sich, auch häuslich, in einer anderen Situation. Es ist aber wichtig, die Zeit aktiv zu nutzen. Wenn Langeweile entsteht, kann es auch eine Möglichkeit sein, um kreativ zu werden. Albert Einstein hat zum Beispiel seine besten Ideen in den Momenten bekommen, in denen er vielleicht etwas zu viel Zeit hatte. Ansonsten haben wir im Moment auch die Zeit, um zu uns selbst zu kommen. Vielleicht bemerkt man auch wie wertvoll die Dinge sind, die wir haben. Gesundheit, die Kabine, die Bewegungsfreiheit oder der Gegner, mit dem man sich messen kann.
(ms)
Foto: FC St. Pauli